Julia Ducournau ist eine der radikalsten Stimmen des modernen Kinos. Ihre Filme brechen Körper und Identitäten auf und verhandeln Menschlichkeit an ihren äußersten Grenzen – nie allein um der Provokation willen, sondern als präzise choreografierte Untersuchungen über das Anderssein, deviantes Begehren und Transformation.
Ihre Handschrift: kompromisslos, brutal, und doch poetisch. Ducournau wurde mit ihrem Debüt Raw (2016) schlagartig international bekannt, gewann mit Titane (2021) als zweite Frau überhaupt die Goldene Palme in Cannes – und legt mit Alpha (2025) ein Meisterwerk vor, das Grenzen zwischen Realität, Mythos und Wahn auflöst.
Neben dem Kino hat Ducournau auch fürs Fernsehen gearbeitet: Für M. Night Shyamalans Servant inszenierte sie drei Episoden der zweiten Staffel, zuletzt führte sie bei zwei Folgen der AppleTV+-Serie The New Look Regie – über Mode und Macht im besetzten Paris. Doch ihr Herz schlägt sichtbar für das radikale Kino, das verstört und verführt. Ein Überblick über ihr Werk.
Raw (2016)
Mit Raw legte Julia Ducournau einen der eindrucksvollsten Debütfilme der vergangenen Dekade vor – eine Coming-of-Age-Geschichte, die sich tief in den Körper frisst. Buchstäblich. Im Zentrum steht Justine, eine junge Vegetarierin aus einer Tierärztefamilie, die ihr Studium an einer renommierten Veterinärschule beginnt. Dort wird sie nicht nur mit abstrusen Initiationsriten konfrontiert, sondern auch mit einer bislang unbekannten Gier: dem Hunger nach Menschenfleisch.
Doch Raw ist weit mehr als ein Kannibalenfilm. Er erzählt vom Erwachsenwerden als schmerzhafte Transformation, von Scham, Lust und der Gewalt, die im Körper selbst angelegt ist. Ducournau inszeniert den Horror so nüchtern wie sinnlich, lässt Haut, Haar und Fleisch sprechen, wo die Worte fehlen. In ihrer Welt ist der Körper kein neutrales Gefäß – er rebelliert, verlangt, zerstört. Raw ist ein Film über das Erbe, das wir in uns tragen – und Begierde, die keine moralischen Kategorien kennt. Schockierend, aber nie sensationsgierig – sondern, trotz allem, tief human.
Titane (2021)
Als Titane 2021 in Cannes lief, war sofort klar: Das ist ein Film, der sich jeder einfachen Verortung verweigert. Julia Ducournau erzählt die Geschichte von Alexia, einer Serienkillerin mit Titanplatte im Kopf, die nach einer Reihe von Morden untertaucht und sich als verschollener Sohn eines Feuerwehrmanns ausgibt. Klingt absurd? Ist es auch – und doch erschütternd real. Titane sprengt Genregrenzen: Body Horror trifft auf Familiendrama, Genderfluidität auf Gewaltfantasie, Maschinenästhetik auf emotionale Zärtlichkeit.
Vincent Lindon spielt den Feuerwehrmann mit einer rohen Verletzlichkeit, die dem Film ein zutiefst menschliches Zentrum gibt. Agathe Rousselle aber bleibt mit ihrer magnetischen Präsenz der aufregende Angelpunkt des Geschehens. Ducournau geht es darin nicht um Schock – sondern um Empathie jenseits gesellschaftlicher Normen. Was Titane so außergewöhnlich macht, ist seine Gleichzeitigkeit: aggressiv und zärtlich, brachial und liebevoll, verstörend und berührend. Der Film ist eine Feier des Werdens, ein Manifest gegen Identitätszwänge – und ein Meilenstein des queeren Kinos, ohne darin je plakativ zu sein.
Alpha (2025)
Mit Alpha übertrifft Julia Ducournau noch die radikale Wucht von Titane – ihr neuer Film ist eine allegorische Tour de Force, die sich erneut konsequent jeder einfachen Kategorisierung entzieht. Im Zentrum steht eine Gesellschaft, in der Menschen zu Marmor erstarren – als Folge eines nicht näher benannten Virus – oder doch aufgrund der Vereinsamung? Denn Alpha ist sicherlich kein dystopischer Science-Fiction-Film, sondern vielmehr surreale Elegie auf Krankheit, Scham und soziale Ausgrenzung. Ducournau verschränkt die Narrative der Aids-Krise mit der Hysterie jüngerer Pandemiejahre, ohne in historische Didaktik zu verfallen. Stattdessen entsteht ein Bild von erschütternder zeitloser Gültigkeit: über das Stigma des kranken Körpers, über Schuld, Sucht und Liebe, über Versteinerung im wörtlichen wie übertragenen Sinn.
Mélissa Boros spielt die titelgebende Hauptfigur mit einnehmender Präsenz: ein Teenager, dessen bloße Existenz zur Projektionsfläche einer verängstigten Gesellschaft wird. Golshifteh Farahani überzeugt als Alphas Mutter sowohl in der stillen Verzweiflung als auch der offenen Wut und Tahar Rahim brilliert als Amin – der Bruder respektive Onkel, der selbst süchtig ist und an der verstörenden Schnittstelle zwischen Stigma und persönlicher Schuld operiert. Die Bildsprache ist außerweltlich, das Sounddesign schneidend – Alpha lässt sich nicht konsumieren, sondern trifft tief ins Nervenzentrum. Ein Film wie ein Fiebertraum: verstörend, notwendig, erschütternd schön.
Die Kurzform: Ducournaus Vorarbeiten
Bevor sie mit Raw international durchbrach, legte Julia Ducournau zwei Kurzfilme vor, die bereits ihre zentralen Themen umkreisen: Körperlichkeit, Transformation, Identität. Junior (2011) erzählt von einem pubertierenden Mädchen, das plötzlich seltsame Veränderungen an sich beobachtet – der erste Ausbruch des Körpers als fremdes, eigenwilliges Wesen. Mange (2012) wiederum zeigt eine junge Frau, die mit einer geheim gehaltenen Essstörung kämpft.
Beide Filme zeichnen sich durch eine kalte, fast klinische Inszenierung aus, die das Unheimliche im Alltäglichen sichtbar macht. Schon hier zeigt sich Ducournaus Gespür für die beunruhigende Kraft des weiblichen Körpers – nicht als Objekt, sondern als rebellisches Subjekt. Wer ihre Langfilme schätzt, entdeckt in diesen Frühwerken die Keimzellen einer Filmästhetik, die den Horror nicht ins Außen verlegt, sondern dorthin, wo er am beunruhigendsten ist: unter die Haut.
Die Filme von Julia Ducournau im Streaming-Überblick: Körper, Kontrolle und das Unheimliche in uns
Die untenstehende Liste zeigt, bei welchen Streaming-Anbietern die Filme von Julia Ducournau – Raw, Titane und Alpha – aktuell im Abo, als Kauf- oder Leihoption verfügbar sind.